Mutterkorn
l'ergot (franz.), ergot (engl.)
wissenschaftlicher Name: Claviceps purpurea (Fr.) Tul. (anamorph: Sphacelia segetum)
Taxonomie: Fungi, Ascomycota, Pezizomycotina, Sordariomycetes, Hypocreomycetidae, Hypocreales, Clavicipitaceae
Mit dem Mutterkornpilz befallene Gräser bilden anstelle der Samen schwarze Sklerotien (Abb. 1-3), die giftige Alkaloide enthalten. Die Einnahme einer grösseren Menge Sklerotien führt bei Menschen und Tieren zum Absterben der Extremitäten. Deshalb existieren Grenzwerte für den Gehalt an Sklerotien im Getreide, die nicht überschritten werden dürfen. Mit Getreide-Reinigungsverfahren können die Sklerotien aussortiert werden.
Bei Wiederkäuern besteht eine Gefahr unter anderem bei der Beweidung von überständigen Gräsern in Ökoflächen, welche häufig stark mit Mutterkorn befallen sind. Auch unternutzte und nicht nachgemähten Weiden sind insbesondere in den Monaten Juli bis September eine Quelle für giftige Sklerotien. Eine Vergiftung der Tiere mit Heu aus Ökoflächen ist weniger wahrscheinlich, da die meisten Sklerotien bei der Heuaufbereitung auf den Boden fallen. Bei der Herstellung von Silage bleiben hingegen mehr Sklerotien im Futter.
Abb. 1. Mutterkorn (Claviceps purpurea) an Bastardraigras
Abb. 2. Mutterkorn an Rotschwingel (Festuca rubra)
Abb. 3. Sklerotien des Mutterkornpilzes (C. purpurea) an Knaulgras
Schadbild
Während der Blüte der Gräser scheiden die mit dem Mutterkornpilz befallenen Ährchen eine gelbbraune, klebrige Flüssigkeit aus (Abb. 4). Diese Ausscheidung wird Honigtau genannt und enthält Konidien des Mutterkornpilzes (Abb. 5), die Sekundärinfektionen auslösen können. Auffallend sind die später aus den Ährchen wachsenden typischen Sklerotien (Abb. 1-3), auch Mutterkorn genannt. Diese bestehen aus dicht verflochtenem, festem Myzel des Schaderregers. Aussen haben die Sklerotien eine blauviolette bis schwarzbraune Rindenschicht, innen sind sie weiss. Die unterschiedlich grossen Sklerotien sind leicht gekrümmt und ragen meistens aus den Spelzen hervor. Häufig sind die Sklerotien von dünnen Hyphen überzogen, die noch Konidien bilden können. Von Mutterkorn befallene Ähren oder Rispen sind aufgrund der intensiven Absonderung von Honigtau oft klebrig und stark von Schwärzepilzen besiedelt.
Krankheitserreger
Claviceps purpurea bildet drei morphologisch unterscheidbare Stadien: Konidien, Sklerotien und Fruchtkörper mit Perithezien. Die Konidien (Abb. 5) sind einzellig, eiförmig bis länglich (2-3 x 4-6 µm) und farblos (Bockus et al. 2010). Die Sklerotien sind je nach Wirtspflanze unterschiedlich gross, gerade oder hornartig gebogen (Abb. 6). Die Wand ist dunkel-blauviolett bis schwarzbraun gefärbt. Das Innere ist weiss. Die Sklerotien keimen mit zahlreichen gestielten, purpur bis violett gefärbten Stromaköpfchen (Länge: 2-20 mm) (Abb. 7). An der Oberfläche der Köpfchen entwickeln sich viele flaschenförmige Perithezien (150 x 200 µm), welche zahlreiche, keulenförmige, farblose Asci enthalten. Die Ascosporen sind fadenförmig, mehrfach fein septiert und etwa 0.6 x 60 µm gross.
Abb. 4. Befallene Ährchen scheiden Honigtau aus. Dieser enthält Konidien, die Sekundärinfektionen auslösen können.
Abb. 5. In den infizierten Blüten werden Konidien gebildet, die mit dem Honigtau nach aussen befördert werden.
Abb. 6. Sklerotien von C. purpurea, dem Verursacher der Mutterkornkrankheit
Lebenszyklus
Mit dem Mutterkornpilz (C. purpurea) infizierte Grasblüten bilden anstelle von Samen Sklerotien. Diese reifen zur gleichen Zeit wie das Samenkorn und fallen entweder auf den Boden oder gelangen bei der Ernte der Samen ins Saatgut, wo sie während der Saatgutreinigung aussortiert werden können. In seltenen Fällen gelangen die Sklerotien mit dem Saatgut wieder aufs Feld.
Sklerotien stellen eine Dauerform dar, die Kälte und Trockenheit widersteht. Der Pilz kann lange Zeit in diesem Ruhezustand verharren. Den Winter verbringen die Sklerotien auf oder im Boden. Falls die Bedingungen günstig sind, keimen sie zur Zeit der Blüte der Gräser. Zuerst erscheinen auf den Sklerotien bis zu 60 kurze Stiele, die mit einem Fruchtkörper in Form eines Köpfchens enden (Abb. 7). In der äussersten Schicht der Köpfchen sind krugförmige Perithecien eingebettet, die schlauchförmige Asci mit je acht Ascosporen enthalten. Die Ascosporen werden aus den Asci geschleudert und gelangen zu der Narbe einer Grasblüte. Ist die Narbe noch nicht befruchtet kommt es zur Primärinfektion. Der Pilz dringt über Narbe und Griffel oder über die Fruchtknotenbasis in den Fruchtknoten der Grasblüte ein. C. purpurea kann nur geöffnete Blüten infizieren, weshalb die Fremdbefruchter Roggen oder Raigras stärker befallen werden als die eher geschlossen abblühenden Getreidearten Weizen oder Gerste.
In den infizierten Blüten werden reichlich Konidien gebildet. Diese werden mithilfe des in den befallenen Blüten produzierten Honigtaus nach aussen befördert. Honigtau enthält nebst den Konidien auch Zucker, der Insekten anlockt. Bei einem Besuch der Ähren werden die Insekten mit Konidien beschmiert und übertragen so die Konidien auf andere unbefruchtete Blüten. Diese werden sofort infiziert (Sekundärinfektion). Regenspritzer oder direkter Kontakt der Blütenstände können ebenfalls zur Verbreitung der Konidien beitragen. Nach einiger Zeit stoppt die Bildung von Honigtau und jeder infizierte Fruchtknoten produziert anstelle eines Samens ein Sklerotium.
Epidemie
In niederschlagsreichen und kühlen Jahren ist mit einem stärkeren Mutterkornbefall zu rechnen, wobei die Witterung während der Gräserblüte (Juni) besonders wichtig ist. Einerseits keimen Sklerotien und später die Ascosporen nur bei einer sehr hohen Luftfeuchtigkeit (98-100 %) und anderseits wird die Blühphase des Getreides durch kühles, feuchtes Wetter verlängert. Bei kühlen Temperaturen wird zudem viel länger Honigtau mit den infektionsfähigen Konidien produziert als bei warmen Temperaturen. Die Konidien wiederum können nur bei sehr feuchten Bedingungen keimen und neue Blüten infizieren.
Extrem heisse und trockene Witterung zur Zeit der Blüte schädigt die Pollen, was zu einer grösseren Anzahl unbefruchteter Blüten führt. Dadurch steigt das Risiko einer Infektion, da C. purpurea nur unbefruchtete Blüten zu infizieren vermag (Obst und Paul 1993).
Roggen nach Roggen (vor allem Direktsaat) sowie ungleich abblühende Getreidebestände begünstigen einen Befall mit Mutterkorn ebenfalls.
Mit C. purpurea infizierte Gräser in den Feldrändern oder im Getreidebestand sind eine mögliche Infektionsquelle für das Getreide.
Wirtsspektrum
C. purpurea befällt sehr viele Nutz- und Wildgräser. Besonders häufig ist der Pilz an Roggen, Triticale oder Raigräsern (Lolium spp.) zu finden. Dinkel, Weizen, Gerste und Hafer werden weniger häufig befallen.
Folgende Futtergräser sind ebenfalls Wirtspflanzen von C. purpurea (Mühle 1971): Agrostis stolonifera L., Alopecurus pratensis L., Arrhenatherum elatius L., Bromus inermis Leyss., B. secalinus L., Dactylis glomerata L., Festuca pratensis Huds., F. rubra L., Lolium multiflorum Lam., L. perenne L., Phalaris arundinacea L., Phleum pratense L,. Poa pratensis L. und Trisetum flavescens (L.) P.B.
Nach Mühle (1971) sowie Obst und Paul (1993) konnte bei C. purpurea auf Gräsern eine physiologische Spezialisierung festgestellt werden, die meist mehrere Wirtspflanzenarten umfasst. In Infektionsversuchen liess sich zum Beispiel das Mutterkorn der Wiesenrispe nicht auf Roggen übertragen, umgekehrt war dies allerdings möglich. Infektionen des Roggens können von englischem Raigras (Lolium perenne) oder Knaulgras (Dactylis glomerata) ausgehen, Infektionen des Weizens von frühblühendem Ackerfuchsschwanz, Wiesenfuchsschwanz, Knaulgras oder einjährigem Rispengras.
Bedeutung
Ein wirtschaftlich wichtiger Schaden entsteht durch die giftigen Alkaloide in den Sklerotien, den Mutterkörnern. Die Einnahme einer grösseren Menge Sklerotien führt bei Menschen und Tieren zum Absterben von Gliedmassen infolge einer Abschnürung von Blutgefässen in den Extremitäten (Gangräne). Auch wird das zentrale Nervensystem stimuliert, was zu muskulären Krämpfen führt. Als weitere Krankheitssymptome werden genannt: Magen- und Darmerkrankungen, Abort, Geschwüre an der Maulschleimhaut sowie im Klauenspalt (Mühle, 1971). Nach O'Rourke (1976) führt ein Befall mit Mutterkorn von 0.5-3 % in der Trockenmasse zu klinisch sichtbaren Symptomen.
Im Mittelalter kannte man die Gefährlichkeit des Mutterkornes noch nicht. Die Sklerotien wurden zusammen mit den Körnern zu Mehl gemahlen und zu Brot gebacken. Dies führte wiederholt zu schrecklichen Epidemien in Europa. Den betroffenen Menschen fielen die Arme und Beine ab und sie wurden zu Krüppeln. Die Krankheit war als "Antoniusfeuer" gefürchtet. Erst im 19. Jahrhundert erkannte man den Zusammenhang zwischen der Krankheit und den Sklerotien des Mutterkornpilzes.
Mutterkornalkaloide wurden früher in der Geburtshilfe zur Einleitung der Geburt eingesetzt. Die Sklerotien wurden dazu eigens auf Roggen gezüchtet.
Vorbeugende Bekämpfungsmassnahmen
- Sklerotien von C. purpurea überleben nur etwa 1-3 Jahre im Boden. Mit einer guten Fruchtfolge (ein Unterbruch von zwei bis drei Jahren zwischen anfälligen Kulturen genügt) kann der Lebenszyklus unterbrochen werden.
- Um eine Einschleppung der Krankheit über das Saatgut zu vermeiden, sollte nur zertifiziertes Saatgut verwendet werden, das frei von Sklerotien ist (feldbesichtigt, gereinigt).
- Ein tiefes Pflügen bringt die Sklerotien in den Boden, wo sie verfaulen bevor sie keimen können.
- Wiesen und Weiden vor der Blüte, bevor Honigtau an den Ähren oder Rispen sichtbar ist, schneiden. Nach einer Beweidung sollte eine Nachmahd erfolgen, damit möglichst wenige Halme stehen bleiben. Früh und spät blühende Gräser sind weniger von einer Primärinfektion betroffen.
- Eine stark mit Sklerotien verseuchte Wiese eher als Heu nutzen und nicht als Silage. Durch die Heubereitung fallen viele Sklerotien auf den Boden.
Literatur
Bockus WW, Bowden RL, Hunger RM, Morrill WL, Murray TD, Smiley RW, 2010. Compendium of wheat Diseases and Pests. Third edition. The American Phytopathological Society, St. Paul Minnesota: 171 p.
Mühle E, 1971. Krankheiten und Schädlinge der Futtergräser. S. Hirzel Verlag Leipzig. 422 S.
Obst A, Paul V, 1993. Krankheiten und Schädlinge des Getreides. Verlag Th. Mann: 184 S.
O'Rourke CJ, 1976. Diseases of grasses and forage legumes in Ireland. An Foras Taluntais, Dublin 4. 115 S.